Wir wachsen mit dem Glauben auf, dass Atmung ein lebensnotwendiger Vorgang ist, der dazu dient, Sauerstoff aufzunehmen und Kohlendioxid abzutransportieren. Das ist ein Fakt. Es ist völlig richtig. Aber was kann Atmung noch? Darüber wird nie gesprochen.
Atmen nicht vergessen!
Wer oder was auch immer dafür zuständig war, menschliche Körper zu konstruieren, muss unglaublich schlau gewesen sein. Stell dir mal vor, wir müssten multitaskingmässig immer daran denken, dass wir ein- und ausatmen müssen! Das würde wohl kaum gelingen. Ich erinnere mich an eine Situation während meiner Tauchausbildung. Wir lernten dabei, unsere Ausrüstung unter Wasser einmal komplett abzulegen und sie dann noch einmal anzuziehen. Ich war so beschäftigt damit, das Wirrwarr an Ausrüstung, das ich gerade unter Wasser abgestreift hatte, zusammenzusuchen und an den richtigen Stellen meines Körpers zu platzieren, dass ich das Atmen schlichtweg vergessen hatte. Keine Ahnung, ob ich im Gesicht schon blau angelaufen war oder mein Tauchlehrer, der glücklicherweise irgendwie vor mir im Wasser schwebte, an der Hektik meiner Bewegungen gespürt hatte, was los war. Auf jeden Fall hatte er mich ganz ruhig – wie es so seine Art war – und mit den richtigen Zeichen darauf aufmerksam gemacht, dass ich sehr wohl die Möglichkeit hatte, durch meinen Atemregler Luft einzuatmen. Ja, so würde mir das wahrscheinlich auch an Land gehen. Und da wäre dann vermutlich niemand dabei, der mich ständig dran erinnert, Luft zu holen …
Die Atmung wird durch unseren Hirnstamm gesteuert, ohne dass wir darüber nachdenken müssen. Sie ist aber auch erstaunlicherweise die einzige vegetative Funktion unseres Körpers, die wir beeinflussen können. Nur leider vergessen wir das meistens. Beziehungsweise viele wissen es gar nicht.
Warum effektives Atmen wichtig ist
Zurück zu den bekannten Fakten: Sauerstoff gelangt beim Einatmen in die Lungen und wird dann an das Blut abgegeben. Das Blut verteilt den Sauerstoff im ganzen Körper und befördert Kohlendioxid als Abfallprodukt des Stoffwechsels zurück. So atmen wir das Kohlendioxid wieder aus. Durch unseren Stress im Alltag, verlernen wir schnell effektiv zu atmen. Wer immer schnell und oberflächlich atmet, versorgt seinen Körper mit weniger Sauerstoff und atmet zudem zu wenig Kohlendioxid ab. Wer beim Einatmen die Schultern hebt und den Bauch einzieht, setzt nur einen geringen Teil der Lungenkapazität ein. Wir atmen automatisch, aber wir atmen nicht automatisch richtig. Die Atmung wirkt auf unsere Nerven, unsere Muskeln und Faszien. Damit beeinflusst sie auch unser Stressempfinden. Und letztlich entscheiden wir immer selbst, wie wir atmen.
Hör auf, den Bauch einzuziehen
Vielleicht bist auch du mit dem Glauben aufgewachsen, zu dem westlich geprägten Bild von Schönheit gehöre – besonders bei Frauen – ein flacher Bauch. Und dann hast auch du vielleicht spätestens ab dem Teenageralter deinen Bauch eingezogen, wann immer du daran gedacht hast. Nun versuche mal, mit eingezogenem Bauch in den Bauchraum zu atmen! Das kann kein Mensch! Wir haben also, bedingt durch Schönheitsideale und Normen, die uns die Gesellschaft auferlegt, verlernt, vernünftig zu atmen. Und das Fatale daran ist, es geht auf unsere Gesundheit. Wenn ich wirklich darauf achte, stelle ich fest, dass die wenigsten Menschen überhaupt wissen, wie sie in den Bauchraum atmen können statt in den Brustkorb. Auch ich war lange Zeit Brustkorbatmer. Wie lange, kann ich nicht sagen, denn natürlich erinnere ich mich nicht an den Moment, in dem ich verlernt hatte, das Spektrum meines Zwerchfells vollends auszunutzen. Heute kann ich das wieder. Und ich stelle, bei einer bewussten Bauch- oder auch Zwerchfellatmung sofort fest, wie ich ruhiger werde.
Meinen Schülern/innen sage ich immer: „Mut zum Bauch.“ Ich hoffe, du hast es auch.