Schlagwort: Schweigen

Fünf Wochen Staunen

Doris Iding ist in der Yogaszene keine Unbekannte. Sie ist seit 20 Jahren Redaktionsmitglied von Yoga Aktuell und hat viele Bücher zu den Themen Meditation, Achtsamkeit und Yoga geschrieben – 18 davon wurden in andere Sprachen übersetzt. Ich habe mit der MBSR- und Meditationslehrerin über ein ganz besonderes Erlebnis in ihrem Leben gesprochen: ein fünfwöchiges Schweigeretreat in Thailand, ausgerechnet kurz bevor die weltweite Corona-Pandemie ausbrach …

Vor Weihnachten 2019 und bis Ende Januar 2020 warst du in Thailand auf einem fünf Wochen andauernden Schweigeretreat. Wie war der Tagesablauf?

Morgens begann die erste Meditation um vier Uhr. Um sieben war die nächste gemeinsame Meditation, bei der wir auch gemeinsam gechantet haben. Dann gab es Frühstück und danach war eigentlich erst einmal freie Zeit. Zwischen 11.30 Uhr und 13 Uhr gab es Mittagessen, danach gab es immer einen Vortrag. Der Nachmittag war dann wieder frei und um 18 Uhr gab es eine letzte gemeinsame Meditation. 

War euer Retreat-Leiter, ein ehemaliger buddhistischer Mönch, sehr streng mit euch?

Nein, überhaupt nicht. Wir waren alle sehr frei. Das schätze ich auch so an Master Han Shan. Das war auch das Tolle an dieser Zeit: Wir konnten so viel meditieren, wie wir wollen. Nichts war Pflicht. Für mich, jemanden, der sehr unruhig ist und sich beispielsweise sehr schwer damit tut, den ganzen Tag lang zu sitzen, war das wunderbar. 

Und was hast du dann in der freien Zeit eigentlich gemacht? Wie kann man sich das vorstellen, fünf Wochen ohne „Geschwätz“?

Oh, ich habe das einfach sehr genossen. Ich habe viele Sitzmeditationen und auch sehr viele Geh-Meditationen gemacht. Es gab einen kleinen Wald, in dem mehrere Tempel standen. Dort habe ich mich sehr viel und sehr gerne aufgehalten. Ich habe die Natur genossen. Einfach gestaunt. Und ich habe auch viel geschrieben. In so einer Zeit fliesst es natürlich nur so aus einem heraus. Und ich habe viel gemalt. Das ist aber auch eine Art Meditation.

Fünf Wochen keine Gespräche. Nicht mal mit dir selbst, war das nicht sehr hart?

Ich habe das sehr genossen, weil ich normalerweise sehr viele Menschen treffe. Ich fand es auch sehr entspannend, mich nicht austauschen zu müssen über die bekannten Yogalehrer, die ich für Yoga aktuell interviewt habe. Wir alle definieren uns auch in der Yogaszene doch sehr über solch äußere Dinge. Deshalb habe ich es sehr genossen, einmal nur für mich zu sein. Allerdings habe ich um Weihnachten, Silvester und Neujahr ein paar SMS geschrieben – das war auch total okay. Ich hatte auch sehr klare Träume in dieser Zeit. Und wenn ich von jemandem träumte, den ich kannte, habe ich auch mal eine WhatsApp geschrieben. Das war völlig okay für mich. Ich habe mich dabei auch sehr gut beobachten können und konnte erkennen, wie viel Energie so ein Handy absorbiert. Die Nachrichten, die ich dann gelesen haben, haben mich natürlich auch sofort wieder weggebracht von der inneren Stille: raus aus der Stille, rein ins Gedankenkarussell. Es war sehr spannend, diesen Prozess zu beobachten. Es war auch sehr spannend, wie gut es mir dann mit etwas Übung gelungen ist, mich wieder zu mir selbst zurückzuholen. Davon abgesehen: Ich finde wir müssen nicht immer so streng mit uns sein. Die Strenge während eines Retreats oder während der spirituellen Praxis ist für mich etwas sehr Männliches. Sie stammt aus den alten, patriachalen spirituellen Traditionen. Die sind meiner Ansicht nach heute nicht mehr gültig. Ich glaube wir dürfen eher lernen, etwas mehr Selbstmitgefühl mit uns zu haben. Aber natürlich braucht es ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, um während eines solchen Retreats tiefe Erfahrungen machen zu können. Selbstverantwortung war hier auch eine wichtige Botschaft für uns. Wir sollten selbst entscheiden, wie viel wir praktizieren. Und das fand ich sehr schön.  

Fünf Wochen sind aber nun nicht sieben Tage. Gab es nie den Moment, an dem du dir gesagt hast: Jetzt reicht es?

Doch, den gab es natürlich. Und du hast Recht, fünf Wochen sind sehr lang. Das sagte übrigens auch unser Retreatleiter. Jemand, der so etwas noch nicht gemacht hat, sollte vielleicht nicht unbedingt mit fünf Wochen starten. Eher mit drei. Und genau das war auch der Zeitpunkt, da habe ich gedacht: „Jetzt habe ich genug.“ Ich mache so etwas aber auch nicht zum ersten Mal, ich würde sagen, einmal im Jahr gehe ich in die Stille. Das mache ich schon viele Jahre. Aber so lange am Stück habe ich das natürlich auch noch nie gemacht. Ich hatte dann nach drei Wochen wirklich den Impuls: Jetzt reicht es mir, jetzt habe ich so viel erfahren, so viel gelernt. Und dann habe ich mir einfach gesagt: Jetzt mache ich es mir hier schön. Jetzt genieße ich das einfach. Wir waren ja wahnsinnig gut versorgt, das Essen war superlecker. Da war eine gute Energie, das wollte ich nutzen. Und: ich wollte natürlich auch durchhalten. Früher hätte ich nach drei Wochen meine Koffer gepackt und wäre an den nächsten Strand gefahren und hätte mir dort noch zwei schöne Wochen gemacht. Deshalb war es eine schöne Erfahrung für mich, dazubleiben und nicht wegzulaufen für mich in einem Moment, in dem es mir reicht. 

Was hast du als besonderes Learning mitgebracht?

Das Staunen. Das habe ich auf diesem Retreat wirklich wieder gelernt. Zu staunen. Beispielsweise über den Sternenhimmel. Der war wirklich unglaublich. Und dann dieser Moment am frühen Morgen, wenn es in Asien von einem auf den anderen Moment hell wird. Ein unfassbarer Moment. In so einer Situation hast du ja wirklich wieder Zeit, dich auf solche Dinge zu fokussieren, sie bewusst wahrzunehmen. Ich erinnere mich aber auch noch an einen Schmetterling, den ich tagelang beobachtet hatte und der mich sehr faszinierte. Eines Tages habe ich einfach meine Hand geöffnet und er hat sich auf diese Hand gesetzt. Das war eine absolut bildliche Erfahrung: Die Dinge kommen schon zu mir, ich muss ihnen nicht hinterherrennen …

War es schwierig, nicht mit den anderen Gästen zu sprechen?

Ja und nein. Es gab einen Retreatleiter, der sehr genau darauf geschaut hat, dass wir uns nicht unterhalten. So etwas macht mich jedoch eher wütend. Ich bin keine drei Jahre alt, sondern kann selbst entscheiden, was ich tue. Und davon abgesehen, wenn man sich unbedingt mit jemanden austauschen wollte, gab es doch immer eine Gelegenheit, sich zu treffen ohne das andere es gesehen haben. Aber alles in allem hat es schon sehr gut getan, bei sich zu bleiben. Wir sind normalerweise ja doch sehr abhängig davon, ob andere uns anlächeln, mit uns sprechen etc. Und mal ganz für sich zu sein, ohne anderen gefallen zu wollen, Anerkennung zu bekommen etc. hat schon auch etwas sehr Befreiendes. 

Der Retreat war kurz vor dem Lockdown, du bist am 23. Januar zurückgekommen. Aus der Stille in eine eigentlich neue, veränderte Welt. Wie war das?

Ich bin aus der Stille zunächst nach Bangkok auf den Flughafen gekommen und das überforderte mich total. Ich hatte da den Impuls: jetzt ist mal Schluss mit dieser ewigen Reiserei. Diese fünf Wochen haben mich so in mein Herz gebracht, und da dachte ich wirklich: Ich will nicht mehr so viel Reisen. Als ich in München ankam, hat sich dieser Gedanke noch mehr verfestigt. Und dann kam ja auch schon bald Corona. Eigentlich war Corona ein Geschenk für mich. Denn in der gewohnten Umgebung musste ich erst einmal ein gutes Mittelmaß an Treffen mit Freunden und Familie und Stille finden. Ich war unvorbereitet darauf, wieder in das normale Leben zurückzukommen. Ein weiteres Mal würde ich mir aber auch einfach mehr Zeit lassen mit dem Ankommen. Ich hatte beispielsweise kurze Zeit später Geburtstag und dachte, ich wolle das unbedingt mit einigen Leuten feiern. Ich habe bei der Vorbereitung gemerkt, dass mich alleine das einkaufen überfordert hat. Ich habe das Fest wieder abgesagt. Gespräche haben mich die ersten Wochen sehr angestrengt. So gesehen war der Retreat eine tolle Vorbereitung auf die Pandemie-Zeit. 

Kannst du das noch etwas genauer erklären?

Ja, wir denken ja auch immer, wir müssten arbeiten oder irgendetwas tun oder erledigen. Am besten 24 Stunden rund um die Uhr kreativ sein. Dürften keine Minute dabei verlieren. Die Corona-Zeit hat uns gezeigt, dass das eben nicht so ist, dass es auch mal anders geht. Und das ist eine Erfahrung, die ich auch während dieser Reise gemacht hatte. Und fünf Wochen Schweigen haben natürlich sehr gut auf den gesellschaftlichen Stillstand vorbereitet.

Müssen wir, um uns selbst kennenzulernen, beginnen, zu schweigen?

Ich finde, dass Meditation eine wunderbare Art ist, sich kennenzulernen. Dieses „Nachinnenschauen“ offenbart uns, wer wir sind, wie wir denken, wie wir fühlen. Das kann natürlich für viele sehr erschreckend sein. Besonders dann, wenn man sehr auf äußere Reize fixiert ist und von der Anerkennung anderer durch Klicks und Likes angewiesen ist. Dann kann einen schon mal ein Gefühl von Leere überkommen, wenn man schweigt und sich mit sich selbst konfrontiert. Aber man braucht nicht gleich mit einem Fünf-Wochen-Retreat beginnen. Vor 20 Jahren hätte ich fünf Wochen Schweigeretreat nicht ausgehalten. Ich glaube, wer wirklich achtsam ist, lernt sich jeden Tag neu kennen. 

Mehr über Doris Iding: http://vomglueckderkleinendinge.blogspot.com